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Ministerpräsident Morawiecki in der Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Wir sollten uns gerade jetzt vor einer Spaltung Europas hüten“

26.05.2020

Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki über den Zusammenhalt der EU in der Corona-Krise, die vertagte Präsidentenwahl und die Justizreform

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Herr Ministerpräsident, kann die Corona-Krise zum Zerbrechen der Europäischen Union führen?

Die mit der Pandemie verbundenen Ereignisse und ihre wirtschaftlichen Folgen sind in ihrem Ausmaß viel größer als alle Krisen der vergangenen hundert Jahre. Denken Sie allein daran, dass die Vereinigten Staaten nach sieben Wochen 38,6 Millionen Arbeitslose haben. Im April habe ich in Ihrer Zeitung geschrieben, dass die Strategie der Austerität, das Engerschnallen des Gürtels während der Krisen von 2007 bis 2013, sich nicht bewährt hat. Daher muss jetzt die Antwort der EU sehr entschlossen sein und unserem Kontinent einen Hebel für seine Entwicklung geben. In einer Zeit dramatischer Veränderungen in der Weltwirtschaft muss das ein Hebel der Investitionen in Infrastruktur, Innovation und in die Menschen sein. Wir können in dieser neuen globalen Rivalität nicht schon am Anfang hinterherhinken.

Kann die Krise die wirtschaftlichen Trennlinien zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern – darunter den Staaten Ostmitteleuropas – verfestigen?

Nur im Mannschaftsspiel können wir ein gutes europäisches Ergebnis erzielen. Die Pandemie hat ganz Europa symmetrisch getroffen, und auch die Antwort sollte symmetrisch sein. Die Staaten Ostmitteleuropas hatten in den vergangenen Jahren eine vernünftige Politik geführt, und so konnten sie jetzt geld- und fiskalpolitisch gut reagieren. Polen, früher ein Land mit einem der schwächsten Steuersysteme, hat dieses mutig reformiert. In der jetzigen Krise hat eines unserer Rettungspakete, das Finanzschild, bereits 170 000 Firmen mit 1,7 Millionen Beschäftigten erreicht. Aber die Folgen der Krise treffen uns alle gleich. Ich vertraue darauf, dass dieses verführerische „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, das beunruhigend oft in früheren Debatten auftauchte, in dieser völlig neuen Situation endgültig ad acta gelegt werden wird. Denn Voraussetzung für Erfolge im Kampf gegen die Krise ist Solidarität zwischen allen EU-Ländern.

Nach der Finanzkrise und der Migrationskrise ist der „kranke Mann Europas“ auch diesmal im Süden zu finden. Dagegen scheinen die „Tigerstaaten“ in Ostmitteleuropa gesund – und sie brauchen keine Unterstützung mehr, könnten manche sagen.

Wir sollten uns gerade jetzt vor einer Spaltung hüten. Einer Spaltung in Kranke und Gesunde zum Beispiel. Das wäre wertend, geradezu stigmatisierend. Aber es gibt kein besseres oder schlechteres Europa, nur ein Europa, das angesichts großer Probleme dringend Solidarität und Zusammenarbeit braucht. Wenn Polen und seine Nachbarn in der Visegrád-Gruppe sich in den vergangenen Jahren am dynamischsten entwickelt haben, so können wir heute mehr Kraft und Frische in die Gemeinschaft einbringen.

Jetzt liegen Vorschläge auf dem Tisch, wie der Kampf gegen die Krise zu finanzieren wäre: ein deutsch-französischer, einer aus Wien und Den Haag. Welches Konzept erscheint aus polnischer Sicht das beste?

Am besten wäre eine Option, die elastisch ist, im Sinne einer EU, die „in Vielfalt vereint“ ist. Sie sollte den differenzierten Bedürfnissen der betroffenen Länder entsprechen. Ein Tourismusland braucht andere Mittel der Unterstützung als ein Land mit großer Automobilindustrie. Wieder andere Instrumente brauchen Länder, die wegen der Katastrophe der kommunistischen Zeit eine Politik der Kohärenz brauchen, Investitionen in Brücken, Straßen, die Bahn, die Energiewirtschaft. Wenn wir schnell einen Wiederaufbauplan beschließen, einen neuen europäischen Marshall-Plan, können wir die Katastrophe der Pandemie zu einem Erfolg umschmieden und die EU stärken.

In Washington regiert ein Präsident, der die traditionelle Außenpolitik Amerikas auf den Kopf gestellt hat. Sie als Vertreter Polens müsste das sehr beunruhigen, oder?

Ganz sicher ist das Vertrauen zwischen den Partnern in Amerika und der EU in letzter Zeit gestört. Allerdings wäre ich zurückhaltend, was die Suche nach Schuldigen – vor allem nur auf einer Seite – betrifft. Die Vereinigten Staaten und Europa haben gemeinsame Werte: Demokratie, Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechte. Wenn wir wollen, dass diese Werte Bestand haben und sich entwickeln, ist die euro-atlantische Zusammenarbeit unerlässlich. Wir leben in Zeiten der Veränderungen und der Instabilität, in einer gefährlichen und dynamischen Epoche. Die Architektur der europäischen und globalen Sicherheit ist ohne amerikanische Beteiligung kaum vorstellbar. Eine gute, vernünftige Zusammenarbeit der Vereinigten Staaten und Europas ist Bedingung für eine gerechte Weltordnung.

In Polen hat einer Ihrer Koalitionspartner, der damalige Minister Jaroslaw Gowin, die Abhaltung der umstrittenen Präsidentenwahl am 10. Mai verhindert. War er illoyal, oder können Sie persönlich sich eine Zusammenarbeit in einer Regierung mit ihm auch künftig vorstellen?

Die vereinigte Rechte, die unsere Regierung trägt, war von Anfang an ein breites politisches Lager mit verschiedenen Strömungen. Anders wären auch ihre Wahlsiege nicht denkbar. Das Vertrauen unter den Partnern in diesem Lager ist unverändert und hat auch durch die Debatten und Beschlüsse über die Wahl nicht gelitten.

Wenn jetzt wohl Ende Juni gewählt wird, werden das unanfechtbare, „freie und faire“ Wahlen sein, auch für den kurzfristig nominierten Oppositionskandidaten Rafal Trzaskowski?

Dies werden im demokratischen Sinne unmittelbare, gleiche, allgemeine und geheime Wahlen sein. So war es in Polen, und so wird es immer sein. Die Behauptung, es könne anders sein, ist absolut unannehmbar. Natürlich ist die Epidemie eine Herausforderung, aber sie war es auch für andere Länder. In Deutschland und Frankreich waren dies jüngst aber keine Präsidentenwahlen. Daher bei uns die hitzigere Debatte.

Der Sieg eines Oppositionskandidaten erscheint nicht ausgeschlossen. Wären Sie bereit zu einer Kohabitation mit einem Präsidenten aus einem anderen Lager?

Präsident Andrzej Duda genießt sehr große Unterstützung unter den Bürgern, er ist in der Wahl der Favorit. Die Zusammenarbeit mit ihm ist sehr gut, was angesichts der Pandemie extrem wichtig war.

Der Vorsitzende der Partei PiS, Jaroslaw Kaczynski, hat neulich von einem „radikalen“ und einem „gemäßigten“ Flügel im regierenden Lager gesprochen. Haben die Radikalen nicht die anderen, deren Ziele eigentlich die Modernisierung Polens und eine stärker „soziale“ Marktwirtschaft sind, in zusätzliche kulturelle Konflikte hineingezogen, etwa beim Thema LGBT oder Geschichtspolitik?

Der Vorsitzende Kaczynski hat auch gesagt, dass wir ein sehr breit aufgestelltes politisches Lager sind und dass das die Quelle unseres Erfolgs ist. Ja, unser Programm ist ein Programm der Modernisierung. Aber das bedeutet nicht, dass wir unsere Werte aufgeben. Unser Ziel ist eine kluge Modernisierung, die nicht die Tradition über Bord wirft.

Der radikale Flügel treibt auch die Änderungen in der Justiz voran; für den Umbau des Obersten Gerichts könnte der Europäische Gerichtshof bald Zwangsgelder verhängen.

Die Organisation der Gerichte gehört zu den souveränen Entscheidungen der EUMitgliedstaaten. Polen ist – im Geiste seiner Verfassung – dabei, die Justiz im Rahmen der europäischen Verträge so zu organisieren, dass sie ehrlich, transparent und effizient wird. Ich habe im Übrigen nicht feststellen können, dass die jüngsten Ernennungen von Gerichtspräsidenten in der Tschechischen Republik oder Deutschland von der EU-Kommission in Brüssel so umfassend kommentiert und kritisiert worden wären; ich denke an Petr Angyalossy in der Tschechischen Republik oder den ehemaligen CDU-Politiker Stephan Harbarth, der jetzt das Bundesverfassungsgericht leitet. Polen ist in diesen Fragen offen für Dialog, aber er muss im Geist des Respekts vor dem Recht und den historischen Bedingungen geführt werden. Nach der deutschen Einigung wurden die Richter und Staatsanwälte aus der ehemaligen DDR überprüft und nur dreißig Prozent von ihnen im Amt belassen. In Polen hatten wir nie die Chance, unser System auf diese Weise zu säubern.

Doch 2020 geht es weniger um Personalfragen, dem PiS-Vorsitzenden geht es eher darum, die „checks and balances“ zu verringern, ob in der Justiz oder in den Medien. Er sieht in Kontrollmechanismen zu Recht Bremsen für die Pläne der Regierenden.

Alles geschieht im Einklang mit dem Recht und der Verfassung. Die Diskussion erinnert mich an den arroganten Satz eines Abgeordneten der einstigen Regierungspartei, der 2014 zur PiS sagte: „Wenn ihr die Wahlen gewinnt, könnt ihr alles verabschieden, was ihr wollt.“ Jetzt sagt man uns seit fünf Jahren, wir dürften trotz unseres demokratischen – und 2019 bestätigten – Mandats keine Gesetze verabschieden.

Ein der PiS nahestehendes Institut hat zu Anfang ihrer Regierungszeit geschrieben, diese Partei könne das vorgefundene System demontieren, aber kein neues aufbauen. Bestätigen die turbulenten vergangenen Monate nicht diese Prognose?

Nichts wäre falscher. Wir haben die extreme Armut beseitigt und eine der umfassendsten Familienförderungen in Europa eingeführt. Wir haben das Gesundheitswesen und viele öffentliche Dienstleistungen digitalisiert, wir stärken die Infrastruktur. Wir sind vor allem eine Kraft der Modernisierung und des Aufbaus besserer öffentlicher Leistungen und Institutionen.

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