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Reaktion des Botschafters der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland auf das am 20.04.2023 in der Tageszeitung FAZ veröffentlichte Feuilleton

24.04.2023

Am 20. April 2023 wurde in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung” ein Feuilleton veröffentlicht, in dem der polnisch-israelische Durchbruch bei der Organisation von israelischen Jugendreisen kritisiert und die Rolle des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg relativiert wird, da die Verfasser eine Kollaboration der Polinnen und Polen mit den Nazis sowie ihre Verstrickung in die Vernichtung der Jüdinnen und Juden nahelegen. Der Artikel stammt von der Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema und von Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.

ADP

In Reaktion auf die unwahren, geschichtsverfälschenden und verletzenden Behauptungen in dem genannten Feuilleton richtete Dariusz Pawłoś, Botschafter der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland, an die Redaktion der Tageszeitung sowie an die Verfasserin und den Verfasser des Artikels den unten abgedruckten Protestbrief mitsamt der Forderung nach einer Entschuldigung:

„Sehr geehrte Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,

 

mit Erstaunen nahm ich das Feuilleton in der FAZ vom 20.04.2023 u.d.T. Staatskult für Judenmörder von Saba-Nur Cheema, Beraterin des Innenministeriums, und Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, zur Kenntnis. Nicht nur in meinen Augen, sondern auch in den Augen vieler polnischer und deutscher Lesender, die mich darauf aufmerksam gemacht haben, stellt der Artikel einen offensichtlichen Versuch einer Relativierung geschichtlicher Tatsachen und eine Revision tragischer Kapitel in der polnisch-jüdischen Geschichte dar – einer Geschichte, in der die Rollen von Tätern und Opfern klar bestimmt sind. Am wichtigsten und am beunruhigendsten ist allerdings der Umstand, dass der Text zahlreiche falsche und verletzende Vorwürfe gegenüber dem Land Polen sowie den Polinnen und Polen in Bezug auf die tragische Geschichte der Auslöschung polnischer und anderer Staatsangehöriger jüdischer Herkunft, indem die Polinnen und Polen einer bewussten Kollaboration mit den Nazis sowie einer Verstrickung in den Holocaust beschuldigt werden. Völlig inakzeptabel ist außerdem die Nahelegung, es gebe eine geheime Abmachung zwischen der polnischen und der israelischen Regierung zwecks einer politisch motivierten Geschichtsfälschung sowie einer gegen die Jüdinnen und Juden gerichteten Hetze unter den Palästinenserinnen, Palästinensern, Iranerinnen und Iranern.

 

Während des Zweiten Weltkriegs am polnischen Volk begangene nationalsozialistische Verbrechen sind gründlich erforscht und nachgewiesen. Hierzu empfehle ich den „Bericht über Verluste, die Polen infolge der deutschen Aggression und Besatzung in den Jahren 1939-45 während des Zweiten Weltkrieges erlitten hat“, der am Jan-Karski-Institut für Kriegsverluste entstand. Polen und seine Staatsangehörigen sollten auf Hitlers Befehl unabhängig von ihrer Nationalität und Konfession ausgelöscht werden. In der Geschichte Polens bedeutete der Zweite Weltkrieg eine Zeit der existentiellen Bedrohung, der drohenden völligen Vernichtung. Zugleich war es ja nicht die polnische bürokratische Maschinerie, welche die „Endlösung der Judenfrage“ bis ins Detail und mit der größten Sorgfalt geplant sowie die Pläne der körperlichen Auslöschung der europäischen Jüdinnen und Juden mit einer außerordentlichen Entschlossenheit umsetzte. Das dem nationalsozialistischen Deutschland zuzuschreibende Verbrechen des Holocausts geschah auf dem gesamten von dem Dritten Reich oder den Achsenmächten kontrollierten Gebiet Europas. Es ist richtig, dass heute die Bekämpfung des Antisemitismus sowohl in Deutschland als auch in Polen als Teil der Staatsräson gilt. Dass die „deutschen Experten“ in ihrem Artikel nahelegen, Polen sei dasjenige Land, das – insbesondere im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg – ein deutliches Problem mit dem Antisemitismus habe, widerspricht den Tatsachen sowie ist allem voran besonders perfide und schändlich.

 

Polen wetteifert nicht um den Titel des hauptsächlichen Opfers des deutschen Nationalsozialismus. Wie jede Nation haben wir aber das Recht, die Erinnerung an unsere ermordeten Landsleute in Ehren zu halten – auch an die ermordeten polnischen Jüdinnen und Juden, an materielle und immaterielle Schäden, wie es unserem Nationalempfinden und unserer Nationalkultur entspricht. Vor diesem Hintergrund sind die Vorwürfe empörend, wir würden die Kollaboration mit den Nazis vertuschen. Gehen die Verfasser von der Annahme aus, die deutschen Leserinnen und Leser hätten nie von den Taten der Heimatarmee, von dem polnischen Untergrundstaat und dem Rat zur Unterstützung der Juden „Żegota“, d.h. der im besetzten Europa einzigen staatlich geförderten Institution zur Errettung der Juden, gehört? Kennen die Verfasser keins der modernen polnischen historischen Museen, in denen auf berührende Art und Weise, in aller Offenheit und Öffentlichkeit, die schwierigsten Kapitel der tragischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zur Sprache kommen? Vielleicht möchten sie die Tatsache, dass sich unter knapp 30.000 Gerechten unter den Völkern mehr als 7.100 Polinnen und Polen befinden, lieber verschweigen?

 

Dass in dem Text polnisch-israelische Themen und die soeben erreichte polnisch-israelische Verständigung in den Kontext des Zweiten Weltkrieges gestellt werden, ist unverständlich und schädlich. Die letztere betrifft mitnichten die Bundesrepublik Deutschland. Ich erinnere mich an keine Situation, in der die polnische Regierung deutsch-israelische Gespräche einer öffentlichen Kritik unterzogen hätte. Dass Deutsche die bilateralen polnisch-israelischen Beziehungen kritisieren, welche von zwei unabhängigen, souveränen Staaten gestaltet werden, empört und entbehrt jeglicher Begründung.

 

Nicht zuletzt macht die Entscheidung, den Aufsatz ausgerechnet zu einem Zeitpunkt zu publizieren, zu dem sich der Aufstand im Warschauer Ghetto zum 80. Mal jährt, einen äußerst perfiden Eindruck. Die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit sollte an diesen Tagen aus Gründen des Respekts vor den Opfern des deutschen Nationalsozialismus dem Gedenken an die bei diesem tragischen Freiheitskampf im besetzten Warschau Gefallenen gelten.

 

Der Artikel bekräftigt einmal mehr die Richtigkeit der von der polnischen Regierung aufgenommenen Thema der Entschädigungen als einer notwendigen Bildungsmaßnahme für die deutsche Gesellschaft, der die tatsächliche Rolle der Deutschen im Zweiten Weltkrieg stets aufs Neue bewusst gemacht werden muss, da sie mit Texten wie dem betreffenden Feuilleton in der FAZ konfrontiert wird. Das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen muss ihr bewusst gemacht werden. Die Zustimmung zur Veröffentlichung derart anfechtbarer, auf Geschichtsfälschungen und Halbwahrheiten basierender Meinungen dient keineswegs Bemühungen um die deutsch-polnische Versöhnung, welche die deutsche Seite deklariert. Von einer meinungsbildenden Zeitung wie der FAZ möchte ich eine prinzipielle Sensibilität bei der Auswahl von Experten erwarten, deren publizierte Ansichten frei von der althergebrachten, uns wohlbekannten Verachtung dem polnischen Volk gegenüber sein sollten.

 

In Anbetracht des oben Gesagten fordere ich entschieden eine Entschuldigung für die geschilderten beleidigenden und verletzenden Inhalte sowie die Möglichkeit, in Ihrer Zeitung eine Gegendarstellung aus der Feder anerkannter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu dem betreffenden, von Ihnen veröffentlichten Artikel abzudrucken.

                                                                                                             

Dariusz Pawłoś

                                               Botschafter der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland“

 

 

ZUSÄTZLICHE INFORMATIONEN:

 

Folgen des Zweiten Weltkrieges für Polen

Bis heute spüren Polen als Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner die negativen Folgen des Zweiten Weltkrieges im Hinblick auf Demographie, Wirtschaft, Infrastruktur sowie auf Entfaltungsmöglichkeiten in Wissenschaft, Bildung und Kultur. Jedes Jahr der Besatzung warf Polen in allen Aspekten des öffentlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens um eine Entwicklungsstufe zurück. Im globalen und europäischen Vergleich wäre der gegenwärtige polnische Staat heute in einem ganz anderen Stadium seiner zivilisatorischen Entwicklung, gäbe es nicht die Folgen des Zweiten Weltkrieges.

Der Überfall auf Polen stellte den ersten, äußerst gewalttätigen Feldzug des Zweiten Weltkrieges dar. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg unterteilte 1946 die deutschen Verbrechen in viele Kategorien, darunter Planen, Einleiten und Durchführung eines Angriffskrieges, Ermordung von Kriegsgefangenen und Zivilbevölkerung, Massenvernichtung in Lagern, Schauhinrichtungen, Zwangsarbeit, Umsiedlungen, vorsätzliche Verwüstung von Städten, Märkten und Dörfern.

Unter allen europäischen Ländern erlitt Polen während des Zweiten Weltkrieges die in Bezug auf Bevölkerungszahl und Staatseigentum größten personellen und materiellen Verluste. In der Geschichte des modernen Europas lässt sich kaum ein ähnlich systematisch geplantes Verbrechen vergleichbaren Ausmaßes finden, das nicht bestraft wurde.

Demographie: In den Jahren 1933-1945 verlor Polen 11,2 Mio. Staatsangehörige. 1939 lebten in Polen 35,1 Mio. Menschen – 1946 waren es 23,9 Mio. Allein von den Deutschen wurden 5,219 Mio. umgebracht. Jede 5. ermordete Person war jünger als 10 Jahre. In den auf polnischem Staatsgebiet errichteten deutschen Todeslagern wurden mehr als 3,7 Mio. Unschuldige ermordet, mehr als 2 Mio. davon in Auschwitz und in Treblinka. Über 2,1 Mio. polnische Staatsangehörige wurden versklavt und zur Zwangsarbeit ins Ausland verschleppt. Sie leisteten insgesamt 7,881 Mio. Arbeitsjahre in über 200.000 deutschen Unternehmen und landwirtschaftlichen Betrieben ab. Die deutschen Besatzer ermordeten die polnischen Eliten. Infolge deutscher Handlungen verlor Polen knapp 70% seiner Zahnärzte, mehr als die Hälfte seiner Juristen, nahezu 40% seiner Ärzte sowie über 20% seiner Priester, Richter, Wissenschaftler und Hochschulangehörigen. Der bevölkerungsmäßige Wiederaufbau nahm mehr als 33 Jahre in Anspruch. Fast 200.000 Kinder wurden zwecks Germanisierung ihren Familien geraubt, nur 30.000 von ihnen kehrten zurück. In pseudowissenschaftlichen Experimenten und durch den Aufenthalt in Konzentrationslagern wurden 590.000 polnische Staatsangehörige zu Invaliden.

Staatsgebiet: Nach den 1945 erfolgten Grenzverschiebungen im Osten und im Westen schrumpfte das polnische Staatsgebiet im Vergleich mit dem Zustand von 1938 um knapp 78.000 km2, d.h. von 389.700 km2auf nur 312.500 km2.

Kulturelle Güter: Der Wert der kulturellen Güter, die infolge der deutschen Besatzung verlorengegangen sind, wird auf 19,31 Mrd. Zloty (ca. 4,1 Mrd. Euro) geschätzt. Zu den unwiederbringlichen polnischen Verlusten zählen Archive und wissenschaftliche Sammlungen. Das Staatliche Schatzarchiv in Warschau wurde vollständig zerstört, das Hauptarchiv der Alten Akten [Archiwum Główne Akt Dawnych] zu 80%, das Archiv der Neuen Akten [Archiwum Akt Nowych] zu 95%.

Materielle Verluste werden entsprechend dem heutigen Preisniveau auf 797,398 Mrd. Zloty geschätzt (nach dem aktuellen Wechselkurs wären es 170,1 Mrd. Euro). Polnische Staatsangehörige verloren Ersparnisse in Höhe von über 89 Mrd. Zloty sowie mehr als 34 Mrd. Zloty in Versicherungen. Dem polnischen Staat entgingen Steuereinnahmen von knapp 500 Mrd. Zloty.

Polen fordert insgesamt 6 Bln 220 Mld 609 Mln Zloty, d.h. 1.532.170.000 Dollar Entschädigung. 

Am 1. September 2022 wurde der vom Jan-Karski-Institut für Kriegsverluste erstellte „Bericht über die Verluste, die Polen 1933-1945 infolge der deutschen Aggression und Besatzung während des Zweiten Weltkrieges erlitten hat“, veröffentlicht. Sein voller Inhalt kann unter https://straty-wojenne.pl/ eingesehen werden.

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